Kurzgeschichten

Wundbrand

‚Lauf, lauf‘, schallte es noch in meinen Ohren, als ich langsam wieder zu mir kam. Ich spürte die Kälte des Waldbodens unter mir und ein modriger Geruch von verrottendem Holz stieg mir in die Nase.

‚Lauf, lauf‘, schallte es noch in meinen Ohren, als ich langsam wieder zu mir kam. Ich spürte die Kälte des Waldbodens unter mir und ein modriger Geruch von verrottendem Holz stieg mir in die Nase. Vorsichtig versuchte ich mich aufzurichten, doch mein Bein durchzogen schreckliche Schmerzen. Plötzlich packte mich jemand von hinten und half mir aufzustehen. „David, bist Du OK?“ „Anna, Gott sei Dank, du hast es geschafft“, sagte ich erleichtert. „Was ist mit deinem Bein?“, fragte sie, wobei sie vorsichtig mein Hosenbein hochzog. Blut rann ihr entgegen und tropfte auf den Waldboden. Eine breite, tief aufklaffende Wunde kam zum Vorschein, die sich von meinem Schienbein bis tief in meine Wade fortsetzte. Anna reinigte die Verletzung grob und band ihr Stofftaschentuch um meine Wade. So humpelten wir dann langsam heimwärts.


‚Alles umsonst!‘, dachte ich, als ich zu Hause in meinem Bett lag und traurig an die Decke starrte. Meine Eltern hatten die Wunde mit ein paar Stoffstreifen, die sie aus einem Bettlaken gerissen hatten, notdürftig verbunden. Wir hatten ihnen natürlich nicht erzählt was wirklich geschehen war. Für sie war ich beim Spielen im Wald gestürzt und hatte mich dabei an einem Ast verletzt. Doch eigentlich waren meine Schwester Anna und ich auf der anderen Seite des Berges gewesen, um dort Eier bei einem Bauern zu stehlen. Unsere Ernte war dieses Jahr schlecht ausgefallen und unsere Hühner hatten wir längst geschlachtet und in der Stadt verkauft, um dafür Mehl und Reis zu kaufen. Geld wollte keiner unseren Eltern leihen. Daher beschlossen wir, uns selbst zu helfen. Gregori, so wussten wir aus Erzählungen unserer Eltern, hatte zahlreiche Hühner und war einer der reichsten Bauern in der Gegend. Wir dachten, es würde ihm nie auffallen, wenn ein paar Eier fehlten. So haben wir uns auf den Weg über den Berg gemacht, der unseren Hof von dem von Gregori trennte. Es schien alles so einfach zu sein, wir kletterten über den Zaun und sammelten einige Eier ein, als uns plötzlich Gregori mit seinem Hofhund entdeckte. Wütend schrie er uns an und  hetzte seinen Hund auf uns. Ich war wie erstarrt und konnte mich nicht bewegen als der Hund auf mich zu lief. ‚Lauf, lauf‘ schrie Anna mich an, worauf ich die Eier fallen ließ, mich umdrehte und hinter ihr her lief. Wir schafften es gerade über den Zaun, bevor der Hund uns erreichte. Wir liefen und liefen, längst hatte ich Anna überholt bevor ich hinfiel.


Das Knarren meiner Zimmertür riss mich aus meinen Gedanken. „Wie geht es Dir?“ fragte mich meine Mutter und legte dabei ihre Hand auf meine Stirn. „Ich glaube Du hast Fieber.“ Sie hatte neue Bandagen mitgebracht und wollte meine Wunde verarzten. Vorsichtig schnitt sie den alten Verband auf und betrachtet sorgenvoll die Wunde. Meine Wade war angeschwollen und die Wunde schwarz verfärbt. Ein übler Geruch breitete sich langsam im ganzen Zimmer aus, der auch von der Jodlösung, die meine Mutter vorsichtig auf die Wunde träufelte, nicht verdrängt wurde. „Er muss zu einem Arzt“, flüsterte sie meinem Vater zu, der in mein Zimmer gekommen war um zu sehen wie es mir ging. Er nickte nur und verließ gleich darauf den Raum. Danach ging alles sehr schnell. Er hatte den Pferdewagen vorgefahren, dessen Pritsche mit zahlreichen Decken ausgelegt war. Es war ein weiter Weg von unserem kleinen Dorf Kochbaani bis nach Tiflis und bei jeder Unebenheit über die wir fuhren fing meine Entzündung heftig an zu pochen, dass ich es bis in meinem Kopf spürte. Dabei wurde mir abwechseln heiß und kalt. Wenn ich wach war, schaute ich hoch zu meinem Vater, der unser altes Pferd unermüdlich antrieb. Es war dunkel als wir bei dem Arzt in Tiflis ankamen. Ich war bereits so schwach, dass ich getragen werden musste. Nur noch schemenhaft konnte ich den Arzt und seine Helferin neben mir wahrnehmen.


Als ich am nächsten Tag aufwachte, war das Einzige, an das ich mich noch erinnern konnte, die Betäubungsspritze, die ich bekommen hatte. Das Zimmer in dem ich lag teilte ich mir mit fünf weiteren Patienten, die alle viel älter waren als ich. Die Betten waren entlang der vergilbten Wände nebeneinander aufgereiht und das kalte Licht einer Neonröhre versetzte den Raum in eine unwirkliche Atmosphäre. Es klopfte an der Tür und mein Vater kam in Begleitung einer Ärztin herein. „Na, David, wie geht es dir?“ fragte sie mich und strich mir dabei mit ihrer Hand über den Kopf. „Müde“, war alles was mir einfiel. „Wir haben deine Wunde gestern gereinigt und desinfiziert, das ist alles, was wir bisher tun konnten. Allerdings war die Wunde sehr stark entzündet. Ich denke, dass wir die Bakterien, die für die Entzündung verantwortlich sind, nur zeitweise mit dem Antiseptikum in Schach halten können. Sie werden wieder anfangen, sich zu vermehren und es wird dir dann wieder schlechter gehen.“ Ich schaute in das sorgenvolle Gesicht meines Vaters und ahnte Schreckliches. Wenn eine Wunde nicht heilt und Bakterien sich unentwegt ausbreiten, kann das zu einer Blutvergiftung führen, an der man sterben kann. Um dies zu verhindern gibt es meist nur noch eine letzte grausame Lösung: die Amputation. Bei dem Gedanken daran, dass sie mein Bein amputieren wollten, merkte ich, wie mir Tränen in die Augen stiegen und langsam meine Wangen herunterkullerten. „Du brauchst keine Angst zu haben. Zur Vorsicht haben wir die Bakterien, die dich krank machen aus deiner Wunde isoliert und züchten sie gerade in unserem Labor. Du weißt doch vielleicht, dass es Bakterien gibt die einen krank machen können. Es gibt aber auch noch viel kleinere Krankheitskeime mit denen man sich anstecken kann. Das sind Viren, wie das Grippevirus. Viren können sich nicht selbständig vermehren und brauchen eine Zelle, die sie infizieren und in der sie dann vermehrt werden. Die Zellen platzen dann und lassen neue Viren frei, die dann andere Zellen befallen können.“ Ich konnte ihr nicht wirklich folgen und wußte nicht, worauf sie hinaus wollte. Hatte ich jetzt auch noch Probleme mit Viren, die alles noch viel schlimmer machen? War es mit einer bloßen Amputation nicht getan? Die Ärztin bemerkte, dass wir von alldem was sie erzählte nicht viel verstanden. „Das Gute, was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass nämlich auch Bakterien krank werden können. Es gibt Viren, die Bakterien infizieren und diese sogar töten können. Diese nennt man Phagen und wir haben zahlreiche Phagen in unserem Labor. Aus diesen suchen wir jetzt die heraus, die deine Bakterien infizieren können. Wenn wir mehrere gefunden haben geben wir sie auf deine Wunde und sie helfen deinem Körper die Bakterien zu besiegen. Du kannst es dir vorstellen wie bei einem Waldbrand: an einer Stelle legt man Feuer und die Flammen vermehren sich von ganz allein, solange nur genug Bäume da sind, die sie entfachen können.“ Nun verstand ich, was sie vor hatten. In meinen Gedanken sah ich, wie eine Armada aus Miniatursoldaten auf meiner Verletzung ausgesetzt wird, die ein Bakterium nach dem anderen tötet und jedes Mal kommen dabei hunderte neue Soldaten aus dem besiegten Bakterium hervor. Wie ein Feuerwall kämpfen sich die Phagen gemeinsam ihren Weg durch die Entzündung, bis auch das letzte Bakterium getötet ist.


„Warum so lange warten“, unterbrach mein Vater meine Gedanken. „Können Sie meinem Sohn nicht gleich Ihre Phagen verabreichen?“ „Das ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Nicht jede Phage kann alle Bakterien infizieren. Sie sind sehr spezifisch und wir müssen genau die finden, die Davids Bakterien infizieren können. Wir haben bisher nur wenige Phagen in unserem Labor, mit denen wir arbeiten können. Das alles kostet viel Geld und Zeit, was uns leider beides nicht zur Verfügung steht. Gleichzeitig versuchen unsere Wissenschaftler, neue Phagen aus Seen, Flüssen und auch aus Abwässern der Stadt zu isolieren, falls die uns zur Verfügung stehenden keine Wirkung zeigen.“


Es vergingen Tage und mein Zustand verschlechterte sich zunehmend, bis schließlich geeignete Phagen gefunden wurden. Mein Vater kniete neben meinem Bett und hielt meine Hand fest umschlungen, als die Ärzte meinen Verband vorsichtig entfernten. Er presste seine Stirn fest an meine Brust und als er zu mir aufblickte sah ich, dass er weinte. Es war zu spät.

Nachwort

Diese alte Form der Therapie ist schon fast in Vergessenheit geraten. Doch durch die übermäßige Anwendung von Antibiotika sind viele krankmachende Bakterien resistent geworden, gegen die es kaum eine Heilung mehr gibt. Hier verspricht die Renaissance der Phagentherapie eine mögliche Alternative, wofür intensive Grundlagenforschung notwendig ist.